Hintergrund
Das alte englische Sprichwort "A stitch in time saves nine" (auf Deutsch etwa "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen" oder "vorbeugen ist besser als heilen") sagt aus, dass ein sofortiges Handeln sinnvoller ist als abzuwarten, bis sich ein Problem entwickelt hat. In diesem Artikel werden wir überlegungen darüber anstellen, ob dies auch auf die medizinische Beschneidung von Jungen im Säuglingsalter zutrifft. Weltweit ist etwa jeder dritte Mann beschnitten [1, 2], das sind schätzungsweise 1,2 Milliarden Männer [2]. In den USA werden jährlich 1,2 Millionen neugeborene Jungen (56% aller männlichen Neugeborenen) im Krankenhaus beschnitten [3, 4]. Die tatsächliche Zahl liegt höher, denn viele Jungen werden in Ambulanzen, Privatkliniken oder bei Hausgeburten beschnitten und gehen nicht in die Statistik ein. In anderen Industrieländern werden Vorhautbeschneidungen ebenfalls meist im Säuglingsalter vorgenommen, wohingegen in nicht-muslimischen Entwicklungsländern die Beschneidung oftmals Teil von Reifezeremonien sind, bei denen die Risiken des Eingriffs für gewöhnlich höher liegen [5]. Die meisten beschnittenen Männer sind Muslime (ca. 70% aller beschnittenen Männer weltweit) [1]. Beschneidungen lassen sich weit in die Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. So gibt es Belege für männliche Beschneidungen durch Höhlenmalereien aus der Zeit des Jungpaläolithikums in Europa (zwischen 38.000 und 11.000 v. Chr.) [6]. Es ist davon auszugehen, dass diese Praktik bereits vor der Wanderung des Homo sapiens aus Afrika entstanden ist [8] und nicht unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen auf der Welt [7]. Wenn die Beschneidung keinen überlebensvorteil gehabt hätte, wäre ihr Fortbestehen unwahrscheinlich gewesen. Wie von Cox & Morris angenommen, war das Ende der männlichen Beschneidung in einigen Kulturen wahrscheinlich eine Folge von Verhaltensänderungen, ausgelöst durch umweltbedingte Stressfaktoren oder neue Religionen wie Hinduismus und Buddhismus [8]. Dies könnte erklären, warum die Vorhautbeschneidung in Europa, Süd- und Zentralamerika, im südlichen Afrika sowie anderen nicht-muslimischen, asiatischen Ländern wenig verbreitet ist. In der Viktorianischen Zeit führte die Erkenntnis, dass die Beschneidung große medizinische Vorteile mit sich bringt, z. B. Prävention von Syphilis und bessere Hygiene, zu einer steigenden Beliebtheit des Eingriffs in angelsächsischen Ländern ab dem 19. Jahrhundert. [7, 9]. Diese Tradition setzt sich bis heute besonders in den USA weiter fort, wo die Mehrheit der männlichen Säuglinge beschnitten wird [3, 4]. In Großbritannien ist die Beschneidung vor allem in der wohlhabenden Oberschicht verbreitet, weil hier eher ein Arzt bei der Geburt zugegen ist als nur eine Hebamme. Das Aufkommen der AIDS-Epidemie in den 1980er Jahren lenkte das wissenschaftliche Interesse wieder verstärkt auf die Vorhautbeschneidung als mögliche Präventionsmaßnahme nicht nur gegen HIV, sondern auch gegen andere sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) sowie weitere Gesundheitsprobleme. In der Subsaharegion Afrikas, wo HIV-Infektionen in der Bevölkerung stark verbreitet sind, wurden Beschneidungsprogramme durchgeführt mit dem Ziel einer kurzfristigen Senkung der HIV-Neuerkrankungsrate. Darüber hinaus wurde ebenfalls zur Beschneidung männlicher Säuglingsalter geraten, um auch langfristig das HIV-Risiko in der Bevölkerung zu senken [10, 11]. In letzter Zeit gab es auch Forderungen nach der Forcierung von Beschneidungen im Säuglingsalter in den USA [12, 13], im Vereinigten Königreich[14], in Australien [15] und in den subsaharischen Ländern Afrikas [16, 17]. Trotz der klaren medizinischen Vorteile der männlichen Beschneidung haben bislang erst wenige Studien die relativen Vorteile der Beschneidung in verschiedenen Lebensphasen vergleichend untersucht. Im Folgenden präsentieren wir unsere Erkenntnisse nach Auswertung der wissenschaftlichen Literatur und zeigen die relativen Vor- und Nachteile von Beschneidungen im Säuglingsalter im Vergleich zum späteren Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter ("späte Beschneidung") auf. Wir vergleichen medizinische und chirurgische Aspekte von Beschneidungen im Säuglingsalter und späteren Lebensalter, Einstellungen und Hindernisse, ethische Aspekte und Kostenaspekte. Unsere Analyse gilt grundsätzlich für alle Länder, seien es Industrie- oder Entwicklungsländer. Nichtdestotrotz sollte beachtet werden, dass die Entscheidung zur Beschneidung immer von unterschiedlichen überlegungen sowie den sozialen und kulturellen Kontexten abhängt. |